Beschreibung
Dreirädrige Tandems galten in den 1890er Jahren als "Heiratsvermittler".
Mit dieser Tandem-Konstruktion zielten die Produzenten auf die damaligen Gepflogenheiten bei der gegengeschlechtlichen Kontaktaufnahme in bürgerlichen Kreisen ab. Für junge Männer und Frauen aus "anständigem Haus" war den Sonntagsspaziergang bzw. die Promenade in den städtischen Parks eine zentrale Gelegenheit, einander kennenzulernen. Allerdings waren sie bei diesen sozialen Ereignissen nie allein, eine "Anstandsdame" aus der Familie oder dem Verwandtenkreis sollte sicherstellen, dass es zu keinem unangemessenen Verhalten unter den jungen Leuten kam. Das dreirädrige Tandem brachte Dynamik in diese Form der Kontaktaufnahme. Im Gegensatz zum Zweirad war das Fahren auf dem Dreirad sofort möglich und musste nicht erlernt werden. Junge, wohlhabende Herren konnten damit in den Park radeln und eine Dame zum gemeinsamen Radeln einladen. Weitere Begleitpersonen hatten das Nachsehen, so dass das Tandem - glaubt man der Ratgeber-Literatur zum Radfahren der damaligen Zeit - Frau und Mann die Gelegenheit gab, einander nicht nur im Gespräch, sondern auch in der gemeinsamen Tätigkeit des Radelns näher kennenzulernen. Wer auf dem Tandem ein gutes Team war, hatte vielleicht auch Potential für die Ehe.
An der Konstruktion des Tandems lässt sich auch einiges über die Geschlechterverhältnisse gegen Ende des 19. Jahrhunderts ablesen. Die Rahmenführung erlaubt einen tiefen Einstieg auf den vorderen Sitz. Die vordere Antriebskette war ursprünglich mit einem Kleiderschutz versehen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es für bürgerlichen Männer und Frauen in Europa keine Frage, dass die Frau auf dem Tandem vorne sitzen musste. Die Promenade bzw. der Sonntagsspaziergang war auch eine Form der sozialen Repräsentation. Frauen trugen hierzu feine, lange Kleider. Die Mode der Männer war zwar hinsichtlich Material und Verarbeitung ebenfalls sehr fein, aber mit ihren gedeckten Farben zielte sie darauf ab, die Erscheinung der Frauen noch strahlender und glänzender zu machen. Der zeitgenössische amerikanische Soziologe Thorstein Veblen beschrieb in seiner "Theorie der feinen Leute" dieses Phänomen als "demonstrativen" bzw. "Geltungskonsum" der Frauen, die mit ihrem Erscheinen den Reichtum und die Bedeutung ihrer Väter und Ehemänner aufzeigten. Auch auf dem Tandem musste diese Form der Repräsentation gewährleistet sein und durfte daher nicht vom männlichen Begleiter verdeckt werden. Er saß daher immer hinter ihr.
Ein weiterer Aspekt der technischen Konstuktion zeigt jedoch auch, wie diese Geschlechterrollen durch technische Notwendigkeiten tendenziell konterkariert zu werden drohten. Indem die Frau vorne saß, hatte sie auf diesem Tandem auch den Lenker in der Hand. Es gab Tandem Konstruktionen, bei denen die Frau mit Rahmenführung und Kleiderschutz vorne platziert, das Balancier indes nach hinten geführt wurde, aber sie machten das Lenken schwieriger und mühsamer. Technisch sinnvoll war es, das Gefährt von vorne zu steuern. Dies entsprach aber nicht unbedingt den Geschlechterrollen der damaligen Zeit. In der Ratgeber-Literatur zum Radfahren gab es daher geteilte Meinungen. Einige empfahlen den Herren, nicht die Nerven zu verlieren und den Damen das Steuern des Fahrzeugs zuzutrauen. Andere rieten zu Modellen, bei denen die Lenkung von hinten erfolgte. Coventry Machinists versuchte die soziotechnische Kontroverse über das Steuern des Tandems mit einem Kompromis zu lösen: Eine Stange führt von der vorderen Lenkstange zur hinteren. Der hinter der Frau positionierte Mann konnte also mitsteuern. In einigen Handbüchern wurde diese Verbindungsstange - durchaus zu Recht - als technisch unsinniger, fauler Kompromiss abgetan. Wenn Vorderfrau und Hintermann in unterschiedliche Richtungen lenkten, drohten sich die Lenkstangen zu verkeilen bzw. die Steuerung gänzlich unmöglich zu werden. Befürworter der Verbindungsstange deuteten sie um in eine weitere Harmonieprobe für das junge Paar: Wer harmonisch und im gleichen Tempo radelte und sich auch beim Steuern eins war, der konnte darauf vertrauen, auch für die Ehe geschaffen zu sein.
Wem das alles zu viel war, der konnte dieses Doppelsitzdreirad durch Abmontieren der hinteren Antriebskette und des Zusatzrahmens mit Lenker und Sitz in ein einsitziges Dreirad verwandeln.
Dieses Modell wurde auch von der Frankfurter Firma Kleyer als "Adler-Doppelsitzdreirad" in Lizenz gebaut.